Echte Veränderung statt nur »Verlässlichkeit«

Neues Deutschland

Europa? Aber anders. Eine rot-rot-grüne Streitschrift schlägt eine radikale EU-Reform vor und der Linkenchef warnt vor nationalen Irrwegen

Wenn Politiker aus SPD und Grünen ihre Abneigung gegenüber der Linkspartei unterfüttern wollen, kommen sie gern auf deren angebliches Verhältnis zu Europa zu sprechen. »Die Verlässlichkeit Deutschlands innerhalb der EU« stehe für die Sozialdemokraten »nicht zur Disposition«, ließ sich unlängst deren Fraktionschef Thomas Oppermann in der Debatte über Rot-Rot-Grün auf Bundesebene zitieren. Und seine Grünen-Kollegin Katrin Göring-Eckardt nannte eine solche Koalition »chancenlos«, solange die Linkspartei eine Reihe von Fragen nicht beantworte - darunter auch die: »Steht sie zur EU?«

Die Frage ist, ob sich hier wirklich echte Sorge über eine falsche EU-Politik ausdrückt oder nicht doch eher der Willen zur Entpolitisierung europapolitischer Fragen niederschlägt: Wird hier nicht lediglich »Verlässlichkeit« gegenüber einem Status quo verlangt? Und müsste nicht zuerst eine Antwort darauf gegeben werden, welche EU, welches Europa denn eigentlich gewollt sind?

Dass es nicht so bleiben kann, wie es ist und war, sagt längst nicht nur die Linkspartei. Nur ein Beispiel: Die Vorsitzenden der DGB-Gewerkschaften haben vor einiger Zeit für einen Kurswechsel in der EU unter der Überschrift »Europa neu begründen« plädiert - unter dem Aufruf finden sich die Namen von Experten, von Gewerkschaftern, auch von Linksparteipolitikern und solchen aus SPD und Grünen. Oppermann und Göring-Eckardt haben nicht unterzeichnet, dafür aber der SPD-Vize Ralf Stegner und die grüne Bundestagsabgeordnete Lisa Paus. Auch Gesine Schwan findet sich da, die Chefin der SPD-Grundwertekommission hat sich in den letzten Jahren immer wieder dafür eingesetzt, in der EU das Ruder herumzureißen.

Schwan gehört neben dem ver.di-Chef und Grünen-Mitglied Frank Bsirske auch zu den Autoren einer »Streitschrift für eine andere Europäische Union«. Das Kernteam der Verfasser bildeten der linke Bundestagsabgeordnete Axel Troost sowie der Sozialdemokrat Klaus Busch. Auch die kritische Volkswirtin Mechthild Schrooten, Joachim Bischoff von der Zeitschrift »Sozialismus« sowie der Berliner Ex-Senator Harald Wolf von der Linkspartei sind dabei.

Das Büchlein ist gewissermaßen das Gegenteil von jener Nicht-Diskussion, die sich - siehe oben - entweder auf gegenseitiges Abverlangen von »Verlässlichkeit« in EU-Fragen beschränkt oder aber jene Art Anti-EU-Rhetorik bedient, die der Vorsitzende der Linkspartei soeben »oberflächliche Eliten- und Währungskritik« genannt hat. Angesichts wachsender Ablehnung der EU, ihrer Verfasstheit und Politik müssten sich gerade Linke »in dieser Frage klar von den Rechten« unterscheiden, schreibt Riexinger in einem im Onlinemagazin »Prager Frühling« veröffentlichten Text, der vor allem ein Appell an die eigenen Reihen ist. Zwar sei »eine deutliche und radikale Kritik« der europäischen Institutionen und der »ihr zu Grunde liegenden gegenwärtigen Klassen- und Herrschaftsverhältnisse« nötig; eine bloße Anti-Haltung gegenüber der EU oder nationalkeynesianische Positionen, die den Rückzug auf die Ebene der nationalen Politik propagieren, bewegten sich dagegen auf einem »gefährlichen Irrweg«, so der LINKEN-Politiker.

Wie ein Kommentar auf Äußerungen wie jene von Göring-Eckardt und Oppermann klingt es, wenn Riexinger für eine fortschrittliche gesellschaftliche Linke darauf beharrt, diese dürfe sich weder auf die bloße Verteidigung der »europäischen Idee« als Floskel der politischen Affirmation der real existierenden EU beschränken noch auf Illusionen setzen, was eine Rückkehr zu nationalen Währungen oder zu einem anderen europäischen Währungssystem koordinierter nationaler Währungen angeht. Riexinger fordert dagegen, den schwierigen, aber alternativlosen Versuch fortzusetzen, »einen dritten Pol zu bilden« und »konsequent solidarisch, internationalistisch, radikal demokratisch und klassenorientiert für eine Neugründung Europas von unten« zu streiten. Und: Es sei falsch zu glauben, dass »soziale Errungenschaften am ehesten noch auf der nationalstaatlichen Ebene verteidigt werden können«. Aus den herrschenden Kräfteverhältnissen, die ihren Niederschlag in den EU-Verträgen gefunden haben, könne »man nicht einfach aussteigen«.

Der sachsen-anhaltische Linkspartei-Politiker Wulf Gallert hat auf Riexingers Beitrag mit den Worten reagiert, in der Europafrage habe dieser »zum richtigen Zeitpunkt das Richtige gesagt«. Der Text sei »eine gute Vorlage für den nächsten Bundesparteitag«. Auch andere LINKEN-Politiker äußerten sich zustimmend. Riexinger schaltet sich damit übrigens auch in die europaweit laufende Debatte über Strategien angesichts von EU-Krise und Rechtsruck ein. Der Streit wird unter anderem zwischen dem griechischen Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis und dem italienischen Linkspolitiker Stefano Fassina geführt. In Frankreich läuft die Debatte über einen »Plan B« ebenso sehr kontrovers.

Die Streitschrift, die am 4. November vorgestellt werden soll, unterfüttert den oft und keineswegs nur von Linkspolitikern zitierten »Neustart der EU« mit sechs konkreten Reformen (siehe Kasten). »Mehr Europa, aber anders« heißt das Motto.

Dazu müssten die Kräfteverhältnisse in in der EU insgesamt verändert werden. Klar ist aber auch, dass ein »Neustart« vor allem eine kleine Revolution in Berlin bräuchte. Die »Tageszeitung« zitierte Schwan mit den Worten, »deshalb brauchen wir einen Regierungswechsel«. Ihr geht es offenbar um Politik, nicht um eine »Verlässlichkeit«, mit der Veränderung bloß verhindert werden soll.